Ledergewerbe in Waldbröl

Waldbröl und sein Umland waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein agrarisch geprägt. Nachdem das ehemals florierende Eisengewerbe um 1800 in die Krise geraten war, unterblieb eine Industrialisierung, wie sie etwa im Nachbarkreis Gummersbach stattfand. Immerhin bot die hiesige Niederwaldwirtschaft den Ansatz für eine bescheidene gewerbliche Entwicklung. Sie lieferte mit der Eichenrinde (Lohe) einen für die Ledererzeugung, speziell die Herstellung von Schuhsohlenleder, nötigen Rohstoff.

1856 eröffnete der Rotgerber Eduard Schumacher (1833–1918) eine Gerberei am Marktplatz, wo seit 1851 der Waldbröler Viehmarkt abgehalten wurde: ein Anziehungspunkt für die Schuster im weiten Umkreis, die sich in Waldbröl das Sohlleder beschafften. Diesen Standortvorteil suchte sich auch der Kaufmann Christian Bertrams zunutze zu machen. Er errichtete um 1890 direkt neben Schumachers Firma eine eigene Gerberei. Die beiden mehrfach verschwägerten Familien verstanden es, den Umbrüchen in der Lederproduktion über zwei Weltkriege hinweg zu trotzen.

Während die Firma Bertrams mit der Gründung der Rhein-Sieg Lederfabrik GmbH (1948/49) den Schritt zum industriellen Großbetrieb mit bis zu 100 Beschäftigten ging, wahrten die Schumacherschen Gerbereien am Markt, in der Oststraße (seit 1924) und an der Brölbahnstraße (seit 1926) bis zuletzt ihren handwerklichen Charakter. Unabhängig von der Ledererzeugung ent­wickelte sich die Waldbröler Lederwarenindustrie. Ihre Geburtsstunde schlug 1914, als der Bürovorsteher Karl Barth (1883–1945) am Boxberg eine „Militäreffekten-Fabrik“ eröffnete, um das deutsche Heer mit Lederutensilien zu beliefern. Nach Kriegsende wurde die Produktion auf Reiseartikel umgestellt. Bald schon liefen die Geschäfte so gut, dass Barth 1928/29 auf einem Gelände unterhalb des Bahnhofs ein vierstöckiges Fabrikgebäude errichten ließ. Koffer, Taschen und Aktenmappen wurden unter der Marke „Berggold“ vertrieben. Barths Gründung erwies sich als Initialzündung, da eine ganze Reihe seiner Mitarbeiter eigene Firmen ins Leben riefen.

Zu ihnen gehörte Karl Böcker (1870–1945). Er begann 1919 mit der Fabrikation von Lederwaren und erwarb später das Haus des Rotgerbers Hannes an der Oststraße samt umliegendem Terrain für den Bau der zweitgrößten Lederfabrik in Waldbröl. 1957, im Jahr der Stadterhebung, gab es in Waldbröl fünf lederherstellende und acht lederverarbeitende Betriebe. Man sprach stolz von einem „Offenbach im Kleinen“ – die hessische Stadt galt als Vorort der Lederbranche. Bis 1962 stellten dann alle fünf Gerbereien ihre Produktion ein.
Länger konnten sich die Lederwarenfabriken halten, bevor auch sie der ausländischen Konkurrenz erlagen. 1987 musste die Firma Karl Barth aufgeben, die zeitweise 370 Arbeitskräfte beschäftigt hatte. Als letzter lederverarbeitender Betrieb schloss 2010 die Firma Hochweller in Schnörringen ihre Tore. In Waldbröl selbst sind die früheren Produktionsstätten aus dem Stadtbild verschwunden. Erhalten geblieben ist allein der 2016 von der Stadt zur Nachnutzung übernommene Komplex der Firma Böcker.